Michael Agoras: "Warum wir den Arbeitszeugnissen ein schickliches Begräbnis spendieren sollten."
Man kennt es aus den frühen 80er Jahren: Eine Gruppe steht in Reih und Glied, vielleicht auch im Kreis. Nummer eins flüstert Nummer zwei eine Botschaft ins Ohr, diese dann wiederum Nummer drei und so weiter. Bis die Botschaft dann beim Endempfänger angekommen, ist sie kaum noch zu erkennen. Grosses Gelächter, grosses Vergnügen. Diesen Verzerrungseffekt kann man auch einfacher haben, er funktioniert auch direkt zwischen Sender und Empfänger der Information, wenn man das richtige Instrument verwendet: Arbeitszeugnisse.
Was im spielerischen Kontext witzig ist, kann im beruflichen Kontext verheerende Folgen haben und über die (Nicht-) Einladung zum Vorstellungsgespräch entscheiden. Ein Artikel im Stellenmarkt der Schweiz am Sonntag von Jörg Buckmann spricht mir aus der Seele. "Arbeitszeugnisse stiften mehr Verwirrung als sie nutzen", schreibt er und regt die Abschaffung dieses Instruments vor.
Ich weiss nicht, wie viele Arbeitszeugnisse ich in den über zwei Jahrzehnten meines beruflichen Werdegangs gelesen habe. Es müssen viele Tausend gewesen sein. Die richtig guten kann ich an meinen zwei Händen abzählen. In den letzten Jahrzehnten ist aus den Bestimmungen des Obligationenrechts ein regelrechter Dschungel an effektiven oder vermeintlichen Präzisierungen entstanden. Wahrheiten und solche, die einfach genug oft nacherzählt wurden, sind Alltag. Jeder interpretiert frisch fröhlich drauflos, im besten Fall interpretieren Absender und Recruiter dasselbe.
Nicht viele Personaler, die Zeugnisse ausstellen, können wirklich gut Schreiben. Diese Kompetenz stand bei Vielen auch nie im Vordergrund. Kein Vorwurf. Doch gerade Arbeitszeugnisse verlangen nach einer sehr präzisen Sprache. Sie sind eine Urkunde, der Anspruch auf ein korrektes Arbeitszeugnis ist rechtlich einklagbar. Friedensrichter und Arbeitsgerichte ächzen unter der Klagelast, Arbeitsjuristen reiben sich die Hände. Darum gehen viele Unternehmen auf Nummer sicher und beschreiben schwammig, unklar oder vordergründig positiv, wie es sich mit Leistung und Verhalten zutrug. Und weil die Anzahl an Zeugnissen so gross ist, werden viele im Ausland geschrieben – oder von Maschinen getippt, voll von Satzbausteinen in ihrem Bauch.
Kürzlich kam mir bei einer Führungsposition ein Schreiben in die Finger. Es war ein Empfehlungsschreiben, verfasst vom direkten Vorgesetzten. Sehr persönlich geschrieben. Mit klaren Aussagen zum Leistungsausweis – also nicht oder nicht nur darüber wie der Mann arbeitete, sondern vor allem, was er leistete. Seine Erfolge, Ergebnisse, Wirkung. Es war grossartig. Genau diese Aussagekraft wünsche ich mir von einem Zeugnis. Es hilft, das Können besser einschätzen zu können. Es regt an, sich mit dem Kandidaten näher zu beschäftigen und sorgt in der Folge dafür, dass sich Arbeitgeber vielleicht endlich auch für Bewerber interessieren, die nicht den gängigen 08/15-Werdegang aufweisen.
Mir ist klar, dass der Aufwand für so ein richtig gutes Empfehlungsscheiben gross ist. Doch eigentlich wäre es ja so unverschämt nicht, am Ende eines oft jahrelangen Einsatzes für das Unternehmen eine Stunde oder zwei Zeit für das Ausstellen einer klaren Empfehlung einzufordern. Weil das aber wohl doch Utopie bleibt, meine ich: Ganz oder gar nicht. Und schliesse mich deshalb der Haltung von immer mehr Expertenkolleginnen und -kollegen an: Weg mit den Arbeitszeugnissen.