Michael Agoras: Talentmanagement - Ein Trugschluss
Interviewt von Julia Bryner, Leiterin Marketing & Events, swissstaffing
Deine Definition von Talentmangement.
Der Begriff «Talentmanagement» ist mittlerweile so missbraucht, dass wir ihn neu beschreiben müssen. Was heisst Talentmanagement? Die Grundidee dahinter stimmt und ist für mich eine zentrale HR-Herausforderung und -Aufgabe. Aber was viele daraus machen, ist falsch. Ein Vergleich: Es ist in etwa so, wie wenn du Ausdauersport machen willst und stattdessen Schach spielst. Beides ist Sport, doch das eigentliche Ziel, nämlich deine Ausdauer zu trainieren und dich auszupowern verfehlst du gründlich. Talentmanagement verändert sich laufend. In der Schweiz und in ähnlich modernen Nationen sollte man heute anstelle dem ausgedienten Talent «management», von Talenthunting und Talentcaring sprechen. Vor allem Unternehmungen mit einer ausgebauten HR-Abteilung haben diese Evolution bis dato verpasst. Wir sprechen heute vom War of Talents, Employer of Choice und Employer Branding. Es wird sehr viel Geld ins Branding investiert à la «Wir sind die Schönsten und die Besten». Das Ziel jedoch wird gründlich verfehlt und am Schluss fehlen uns die Talente noch immer und wir fragen uns tatsächlich, wieso?
Weshalb fehlen die Talente?
Meiner Meinung gibt es dafür zwei Erklärungen. Erstens: Die Unternehmungen betreiben falsches Branding, mit künstlichen Botschaften und oberflächlichen Informationen. Zweitens: Die Talente wollen ernstgenommen werden, sie wollen Echtheit erfahren und eine Auswahl erhalten. Für Lehrlinge existieren beispielsweise Lehrwerkstätten, in denen sich verschiedene Unternehmen zusammenschliessen um ihnen optimale Ausbildungsbedingungen zu ermöglichen. Weshalb gibt es das nicht für die Talente? Unternehmen der gleichen Branche oder solche mit ähnlichen Herausforderungen könnten sich zu einer Community zusammenschliessen, zu einem Talent-Planet. Die Realität sieht jedoch anders aus. Solange die Unternehmen ihre Mitarbeiter als ihr Eigentum betrachten und sich entsprechend verhalten, können wir uns nicht entwickeln und kreative Lösungen werden nicht überleben. Ergo, ein Trugschluss.
Was ist die Konsequenz von diesem Denken?
Es ist eine ganze Kette an Missverständnissen. Die Unternehmen sollten verstehen, dass sie kreativ, proaktiv und vielseitig auf die Talente zugehen müssen. Heute ist dies noch nicht der Fall. Recruiter haben ihre veralteten Prozesse einzuhalten. Immer wieder werden die gleichen Inserate geschaltet und unauffällige sowie nichtssagende Posts auf den einschlägigen Social-Media-Plattformen publiziert. Das Resultat bleibt mager. Wenn dann endlich eine Bewerbung eintrifft, sind die Algorithmen der angeblich mit künstlichen Intelligenz befruchteten Roboter die nächste Hürde. Sie verkennen die Talente und schrecken diese ab – und das finde ich noch viel schlimmer. Zu guter Letzt bleibt wieder die Eine so wichtige Frage unbeantwortet stehen: «Wo um Gottes Willen sind all diese Talente?».
Und dann kommt die Absage des Unternehmens, obwohl es ein Ultratalent wäre…
Genau. Talente werden heute immer noch nach Skills, Ausbildung, Weiterbildung, Sprachen, Wohnort und Erfahrungen gesucht. Unsere ganzen Prozesse sind auf diesen Kriterien aufgebaut. Als Grundlage dienen überholte Stellenbeschreibungen und Anforderungsprofile. Als Basis dafür dienen die Motivationsschreiben, welche sich an Superlativen und getunten Adjektiven überbieten und schicke, gepimpte Lebensläufe. Ich bin kein Freund von Motivationsschreiben und Lebensläufen, denn sie ermöglichen mir weder einen Einblick in die wahre Persönlichkeit und die Fähigkeiten noch erfahre ich die Einstellung und die echte Motivation. Meiner Meinung nach sollte die Einstellung und Motivation konsequent erfragt, besprochen und verglichen werden.
Was ist richtig gutes Talentmangement für dich?
Wenn Talente nach ihren Potentialen gesucht, angestellt und entwickelt werden. Es sollte ein harmonisches Zusammenspiel der Unternehmung mit dem Talent sein – mit klaren Rahmenbedingungen, Regeln und zeitlichem Horizont. Ich spreche von einer weitsichtigen und fairen Karriereplanung basierend auf Persönlichkeit, Fähigkeiten und Interessen. Es braucht sowohl vom Unternehmen als auch vom Talent die Bereitschaft und das Engagement Verbindlichkeiten einzugehen, Versprechungen einzuhalten und gegenseitig zu investieren. Solche Firmen betreiben echtes Talentmanagement oder wie ich das bezeichnen würde «Talentcaring».
Talente zu finden wird immer schwieriger. Richtig oder falsch?
Für mich ist das eine Ausrede, eine Entschuldigung für verpasste Chancen. Ein Nichtverstehen, was es benötigt, um die gewünschten Talente zu finden und zu gewinnen. Wir müssen unsere Einstellung ändern. Die Talente müssen das echte Interesse der Firmen spüren. Ich bin überzeugt, es gibt keinen Mismatch von Angebot und Nachfrage. Die Talente sind anspruchsvoller, wählerischer und selbstsicherer geworden. Ich gebe dir das klassische Beispiel mit dem Fisch: Wenn die Angel mehr oder weniger an der gleichen Stelle, mit dem gleichen Köder ausgeworfen wird, so denken sich die Fische «Nicht schon wieder die gleiche Made. Ich will etwas Besseres, ich will umworben, ich will ernst genommen werden». Natürlich hinkt dieser Vergleich hinterher, aber er illustriert auf eine sinnbildliche Art und Weise, um was es mir geht. Die Talente möchten umworben und ernst genommen werden. Sie wollen Verbindlichkeit, Sinnhaftigkeit, Chancenvielfalt und Ehrlichkeit erfahren. Viele Firmen präsentieren sich schlecht, verkaufen sich unter ihrem Wert und verpassen durch ihre überalterten Prozesse Chancen. Individualität, Persönlichkeit, flexibles Timing, Kreativität und Mut zu neuen Wegen ist gefragt. Zeigen Sie wahres und echtes Interesse an den Talenten. Jedes Talent, welches sich beworben hat, ist ein wertvoller Botschafter für die Unternehmung. Das muss man sich bewusst sein.
In Zukunft wird es aufgrund der Qualifikationen wenige Gewinner und viele Verlierer geben. Was würdest du als Arbeitgeber dagegen machen?
Das sehe ich ebenso. Aktuell ist es noch nicht stark bemerkbar, weil uns die Wirtschaftssituation in die Hände spielt. Sobald sich das wirtschaftliche Umfeld abkühlt, wird die entstandene Friktion stärker ersichtlich. Mein Grundsatz: Wir alle müssen mit der Zeit gehen und die Tugend der Neugier bewahren. Als Arbeitgeber haben wir eine soziale und wirtschaftliche Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitern. Wir sollten Zeit und Ressourcen in deren Aus- und Weiterbildung und in ihre Persönlichkeitsentwicklung investieren.
Auf den Punkt gebracht – Was sind die 5 Schwächen im heutigen Talentmanagment?
- Die Hard Facts stehen immer noch im Vordergrund: Das sagt über das Talent sehr wenig aus. Vielmehr sollte auf die Fähigkeiten und die Einstellung geschaut werden.
- Der Blickwinkel ist zu einseitig: Wir haben einen Stellenbeschrieb, der aber morgen schon veraltet ist. Das widerspiegelt unsere heutige Dynamik schlichtweg nicht mehr. Die Chancen und Perspektiven sollten im Vordergrund stehen. Es heisst schliesslich Talent-MANAGEMENT.
- Unwissenheit, und Desinteresse bei den Recruitern: Menschen, die die Talente suchen und überzeugen sollten, kennen häufig ihr eigenes Unternehmen und deren gesuchte Profile nicht gut genug. So bleiben die Kompetenz, die Leidenschaft und das Feuer auf der Strecke.
- Das Unternehmen wirbt nicht für sich und um das Talent: Talente wollen umworben werden. Firmen müssen Marketing in eigener Sache machen.
- Alles ist sehr unverbindlich: Firmen erwarten, dass mit einem oder zwei Vorstellungsgespräche oder/und mit einem Schnuppertag bereits eine Loyalität und Identifikation erreicht werden kann. Das ist nicht realistisch.
Kurz gesagt: Es muss ein frischer Wind her. Die Zeiten sind vorbei, in denen mit Desinteresse rekrutiert werden kann.
Dein Tipp um Talente effizient zu finden.
Wenn ich mit Leidenschaft, Echtheit und Überzeugung rekrutiere und selektioniere, dann spürt man das. Lasst nur die Recruiter ans Werk, die Fans sind. Nur die Jünger und nicht die Söldner. Ein wunderbares Beispiel ist der Heineken Spot „The Candidate“ (https://youtu.be/a9JLJ4cm3W8). Es geht um Identifikation und Stolz bei der Arbeit, um Leidenschaft. Das muss das Ziel sein.
Was macht dir als Geschäftsführer Sorgen in der Schweiz?
Ich habe Einblick in etliche Schweizer Unternehmen. Das ist ein Vorteil meines Berufes und das hat mich schon immer begeistert. Ich kann sagen: Die Schweizer Unternehmen sind sehr gut unterwegs, kompetitiv aufgestellt und frisch in der Ideologie. Ich mache mir keine Sorgen um die Schweizer Wirtschaft. Aber um die Regulierungen, die in der Politik immer wieder diskutiert werden. Die Absichten sind gut, aber das Verständnis für die Konsequenzen fehlt. Wenn man an einem Rad eines komplexen Getriebes dreht, so sollte man die Auswirkungen auf das Gesamte nicht ausser Acht lassen… Die Politik, Verbände oder Interessensgemeinschaften möchten unser liberales, föderalistisches und freies Land schlichtweg zu fest reglementieren. Und das kann verheerende Auswirkungen auf unsere Wirtschaftsfähigkeit, Dynamik, Wettbewerbsstärke und schlussendlich unsere Arbeitsplätze haben. Das bereitet mir wirklich Sorgen.
Und auf was freust du dich?
Es ist mehr ein Stolz und weniger eine Freude. Ich bin stolz in einem Land zu leben, das so gute Rahmenbedingungen, eine starke Tradition, fleissige Arbeitnehmer, gesunde und innovative Unternehmungen und politischen Frieden hat. Und ich könnte noch weitere Tugenden der Schweiz aufzählen. Was ich sagen will ist, dass wir in einem Paradies leben, welches wir uns erarbeitet haben. Manchmal fehlt uns das Bewusstsein und die Dankbarkeit. Vieles wird zur Gewohnheit. Wir leben in einem der grossartigsten Länder dieses Planeten. Besinnen wir uns auf unsere Stärken und Eigenheiten – ich freue mich wirklich in den nächsten Jahren Teil davon zu sein.