Michael Agoras - Probezeit & Co: Ein alter Zopf
Wie stellen Unternehmen heute sicher, dass die richtigen Mitarbeiter eingestellt werden?
(lacht) Das können sie nicht sicherstellen. Werfen wir einen Blick auf den Rekrutierungsprozess. Zuerst ist jemand ein «anonymer» Bewerber, das heisst dieser jemand bewirbt sich aktiv oder wird beworben. In dieser ersten Phase wird der Bewerber grob gescreent und im Anschluss entschieden, ob er oder sie überhaupt ein Kandidat werden kann. Und bereits dort liegt meist das Problem begraben. Viele Unternehmen machen am Anfang einfach zu wenig gründliche Arbeit. Das ist wie bei einem Winzer. Anstatt die besten Trauben zu selektionieren, um die Qualität des Weins zu steigern, nimmt er beinahe alle, weil er das Volumen braucht. Das gleiche Problem ist im Recruiting und in der Personaldienstleistung. Die Hausaufgaben werden häufig viel zu oberflächlich gemacht. Entweder ist das Unternehmen extrem kritisch, was zwar gut ist aber meistens werden die Talente nicht berücksichtigt. Wenn jemand beispielsweise eine Sprache nicht richtig beherrscht ist das ein kleines Problem. Die Sprache kann gelernt werden, die richtige Einstellung aber nicht. Oder es geht über das Volumen und es werden einfach aus den 150 Bewerbungen 10 bis 15 Bewerbungen selektioniert und dann entschieden. Für einen perfekten Match braucht es aber bedeutend mehr.
Und was genau braucht es für den perfekten Match?
Wissen! Der Recruiter muss viel über die Firma wissen. Das ist in den seltensten Fällen so. In Grossunternehmen ist das Wissen auch intern meist nur eingeschränkt vorhanden, weil es schlicht sehr komplex ist und der Wandel im jeweiligen Unternehmen präsent ist. Das ist auch eine Schwierigkeit unserer Branche; das Wissen ist oft oberflächlich. Doch was ist Wissen überhaupt? Das kann man nicht einfach nachlesen oder mittels Youtube lernen. Wissen geht viel tiefer. Es ist unter dem Eisberg: Was ist die Kultur der Firma, was ist die Wertepolitik, was sind die formellen und informellen Prozesse? Wer ist wirklich der Leader, wer ist der Beeinflusser? Wenn der Recruiter dieses Wissen nicht hat, so frage ich mich, wie ein perfekter Match entstehen kann. Probleme, Fehlentscheidungen und die falschen Mitarbeiter sind die Konsequenz. Es braucht Zeit, Willen und Energie sowie mehrfache Besuche und Gespräche. Es ist ein Irrtum nur mit dem Besteller zu reden. Meistens ist das das HR. Ein Stellenbeschrieb und Inserat reichen aber hinten und vorne nicht. Man muss wirklich in die Tiefe gehen. Und dafür sind manche nicht gewillt, sich die notwendige Zeit zu nehmen.
Und das ist erst die eine Seite...
Genau. Wie viele Male können wir wirklich behaupten, dass wir den Kandidaten oder die Kandidatin gut kennen? Für das kann man nicht einfach nur ein Skype-Interview führen, eine Datenbank ausfüllen und alles abrufen was auf dem Netz ist. Die Kandidatin muss man in verschiedenen Situationen erleben. Sie zu einem Gespräch einladen, einen Kaffee trinken gehen, am Morgen um Viertel nach Sieben anrufen, mal am Abend. So lernt man die Person auch in Stresssituationen kennen.
Dafür könnte man doch auch Referenzen einholen...
Wo holt man Referenzen ein? Bei den Vorgesetzen. Das ist nicht zielführend. Was will oder was kann der Vorgesetze denn sagen? Referenzen muss man bei den Peers einholen, bei Unterstellten oder dem kollegialen Umfeld. Am besten bei Personen, die der Recruiter und die Kandidatin beide kennen. Das hilft den Blickwinkel zu ändern. In der Realität wird das viel zu selten gemacht. Recruiter und Personalberater stehen unter einem grossen Erfolgsdruck. Bei 30 Prozent eines Matchs hören die meisten auf und merken nicht, dass es weit mehr bräuchte. Das ist die traurige Realität.
Wie nützlich sind denn Arbeitszeugnisse?
Arbeitszeugnisse sollten abgeschafft werden. Diese Standardwerkzeuge nützen in der Rekrutierung sehr wenig. Der Lebenslauf ist sowieso getunt und das Zeugnis ist sehr standardisiert und nichtssagend. Als Recruiter musst du aber erkennen, was nicht im Zeugnis niedergeschrieben wird. Das Zeugnis muss man lesen und sich fragen, was nicht erwähnt wurde. Ein Zeugnis zu interpretieren ist jedoch nutzlos, wenn nicht gar gefährlich. Weil alles relativ ist. Was heisst «Sie war stets zuverlässig»? Wir alle haben völlig andere Anforderungen und ein anderes Verständnis von Zuverlässigkeit. Auch Zertifikate. Wie häufig habe ich brillante Noten gesehen, aber die Person hatte nur eine schwache Sozialkompetenz. Es ist immer ein Ganzes. Das Zeugnis braucht es als Arbeitsnachweis. Ein Recruiter sollte sich jedoch überlegen, was er damit anfangen soll und was es wirklich aussagt. Ein Empfehlungsschreiben wäre meiner Meinung besser, echter. Das Arbeitszeugnis gibt nur darüber Auskunft, wie diese Person in genau dieser Funktion, in genau dieser Firma tätig war. Das kann nicht auf einen weiteren Job übertragen werden. Im Empfehlungsschreiben kann ein Vorgesetzter, Mitarbeiter oder Kollege schildern, wie er oder sie die Person wahrgenommen hat und das sagt viel mehr aus.
Ist die Probezeit ein alter Zopf oder wichtiger denn je?
Umso sauberer rekrutiert wird, desto besser kann man die Probezeit leben. Umso schlechter rekrutiert wird, desto wichtiger ist die Probezeit. Da sind wir wieder beim perfekten Match. Eine Trennung in der Probezeit hinterlässt nicht selten ein fahles Gefühl. Meiner Meinung nach ist die Probezeit einfach nicht mehr zeitgemäss. Nur schon das Wort «Probezeit». Was heisst das eigentlich? Das klingt nach Umtauschrecht für eine Ware. Das geht doch einfach nicht, schliesslich haben wir es mit Menschen zu tun. Die Kündigungsfrist sollte einfach kürzer sein und dann bräuchte es keine Probezeit mehr. Eine unverhältnismässig lange Kündigungsfrist beispielswiese von drei oder mehr Monaten ist für den Arbeitnehmer ein Hindernis und nicht eine wie so oft erhoffte Sicherheit. Die wenigsten Unternehmen brauchen erst in drei Monaten eine neue Person, sondern just-in-time. Unsere Arbeitswelt muss in den nächsten Jahren zu 100 Prozent flexibel werden.
Wie denn?
Gewisse Sachen modernisieren sich und andere bleiben einfach stehen – wie die Probezeit. Unsere Fahrtickets kaufen wir mittlerweile ja auch nicht mehr als Kartonkarte am Schalter. Wir lösen es just-in-time auf der SBB App kurz bevor wir in den Zug steigen. Das gleiche sollte auch für HR Prozesse gelten. Es braucht mehr Transparenz, mehr Fairness. Das Arbeitszeugnis ist nicht fair, denn es ist einseitig und verleitet zu Annahmen. Deshalb finde ich das Bewertungssystem von Coople (vormals Staff Finder) top – dort können sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenseitig bewerten und es ist komplett transparent. Das sollten sich meiner Meinung nach alle Unternehmen zu Herzen nehmen: Transparenz. In Zukunft ist es entscheidend wie informativ wir werden. Die Unternehmen müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, die Mitarbeiter involvieren, Verantwortung übergeben und das Wissen und die Power von unten nutzen. Das Zusammenspiel entscheidet viel darüber, wie gut wir mit den Veränderungen umgehen und wie erfolgreich wir in Zukunft sein werden.